Exotische Aufenthaltsrechte: Das Aufenthaltsrecht nach Art. 21 AEUV
- Mirko Vorreuter, LL.B.

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Manche Rechtsnormen finden im Migrationsrecht weniger Anwendungsfälle als andere. Dies gilt z.B. für Art. 21 AEUV. Die Norm ist schon deshalb besonders, da es ungewöhnlich ist, ein Aufenthaltsrecht direkt aus den europäischen Verträgen herzuleiten. Dies ist zwar auch in anderen Konstellationen wie dem Vander-Elst Visum möglich, allerdings ist die Begründung von Aufenthaltsrechten normalerweise nur durch Gesetze wie dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG) oder dem Freizügigkeitsgesetz (FreizügG/EU) üblich. Gleichwohl erkennt die Rechtsprechung auch die Begründung eines Aufenthalts auf Grundlage von Art. 21 AEUV an. Der Gedanke dahinter dürfte sein, dass z.B. im Eltern-Kind-Verhältnis der Aufenthalt in einem anderen EU-Staat im Sinne des Art. 21 AEUV unmöglich ist, wenn keine Begleitung durch die sorgeberechtigte Person erfolgen kann.
Das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nach Art. 21 AEUV
Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährt Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Die Norm begründet also zunächst ausweislich des Wortlauts kein Aufenthaltsrecht für Drittstaatsangehörige, sondern erstmal nur für EU-Bürger. Das Recht aus Art. 21 AEUV kann allerdings unter bestimmten Voraussetzungen auch auf Familienangehörige übertragen werden, die selbst keine Unionsbürger sind. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat in seinem Urteil vom 13. Juni 2024 (1 C 5.23) klargestellt, dass ein solches abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 21 AEUV auch dann bestehen kann, wenn der Drittstaatsangehörige bereits ein anderes Aufenthaltsrecht aus nationalem Recht besitzt. Damit führt das Gericht seine bisherige Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.09.2020 – 1 C 27.19) fort und stärkt die unionsrechtlich begründeten Aufenthaltsrechte von Eltern minderjähriger Unionsbürger.Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts nach Art. 21 AEUV
Das aus Art. 21 AEUV abgeleitete Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Elternteils setzt nach der Entscheidung des BVerwG (Rn. 23) drei kumulative Voraussetzungen voraus:
1. Grenzüberschreitender Aufenthalt des Unionsbürgers
Der minderjährige Unionsbürger muss sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten als demjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Damit wird an das unionsrechtliche Freizügigkeitsverständnis des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG angeknüpft. Insofern ist es anerkannt, dass sich Unionsbürger in ihrem eigenen Staat nicht auf Freizügigkeitsrechte berufen können (z.B. für den Familiennachzug; sog. Inländerdiskriminierung).
2. Tatsächliche Ausübung der elterlichen Sorge durch den Drittstaatsangehörigen
Das Aufenthaltsrecht wird nur demjenigen Elternteil zuerkannt, der die tatsächliche Fürsorge und Verantwortung für das Unionsbürgerkind übernimmt. Diese tatsächliche Beziehung ist entscheidend, um das Familienleben im Sinne von Art. 7 GRCh (EU-Grundrechtecharta) zu schützen.
3. Freizügigkeitsberechtigung des Unionsbürgers
Das Kind selbst muss (selbst) freizügigkeitsberechtigt im Sinne des Unionsrechts sein. Das Aufenthaltsrecht darf nicht lediglich abgeleitet sein. Diese Voraussetzung ist häufig problematisch, da minderjährige Unionsbürger die in § 2 Abs. 2 FreizügG/EU genannten Tatbestände – etwa als Arbeitnehmer, Selbständige oder Studierende – regelmäßig nicht erfüllen.
Fazit zum Aufenthaltsrecht gemäß Art. 21 AEUV
Das Aufenthaltsrecht nach Art. 21 AEUV ist ein vergleichsweise selten genutztes, aber dogmatisch hochinteressantes Instrument des europäischen Migrationsrechts. Es zeigt, dass das Unionsrecht in besonderen Konstellationen über den Rahmen des nationalen Aufenthaltsrechts hinausgreifen kann, um den effektiven Schutz familiärer Bindungen und die Freizügigkeit von Unionsbürgern sicherzustellen. Besonders die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Juni 2024 und die vorhergehende Rechtsprechungslinie verdeutlicht, dass das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht auch neben einem nationalen Aufenthaltsrecht bestehen kann und somit eine eigenständige, ergänzende Funktion hat.
Art. 21 AEUV gewinnt damit vor allem in Fällen an Bedeutung, in denen ein minderjähriger Unionsbürger auf die tatsächliche Anwesenheit und Fürsorge eines drittstaatsangehörigen Elternteils angewiesen ist. Durch die Anerkennung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts wird nicht nur das Recht auf Freizügigkeit, sondern auch das durch die Grundrechtecharta geschützte Familienleben gewahrt. Insgesamt verdeutlicht Art. 21 AEUV, dass das Unionsrecht in Ausnahmefällen ein unmittelbares Aufenthaltsrecht begründen kann – und damit als „exotisches“ Rechtsinstrument einen wichtigen Beitrag zum Schutz familiärer Einheit in einem europäischen Kontext leistet.



